22. Tube – Krieg und Frieden


innere StimmeMeine Nachbarin ist gestern 92 Jahre alt geworden. Ich war zum Sektfrühstück eingeladen. Die Tafel war mit Liebe gedeckt. Die weißen gestärkten Stoffservietten waren zu schönen Taschen gefaltet, in denen hübsche rote Blüten steckten.

„Oh, das haben Sie ja toll gemacht“, sage ich zu ihr.

Sie lächelt mich an und erwidert mit sichtlich schlechtem Gewissen, das ich daran erkenne, dass sie kurz zusammenzuckt: “Danke. Hmmmh. Die sind aus Ihrem Garten. Das sind Pfaffenmützchen.“

„Aus meinem Garten?“ Die Pfaffenmützchen sind wunderhübsch. Die Blüte besteht aus einer kleinen dunkelroten eckigen Mütze, aus der ein winziges hellrotes Herz an einem dünnen Stiel pendelt.

Ich lache: „Sie kennen meinen Garten besser als ich!“ Die Himbeeren, die gerade bei uns reif sind, hat sie uns heimlich ins Beet gepflanzt.

Frau Berstel ist jeden Tag unermüdlich mit ihrem Rollator im Garten unterwegs. Der Garten ist in einem tipptopp Zustand. Sie ist zufrieden, auch wenn ihr Körper nicht mehr alles mitmacht. Sie ist dankbar. Sie findet immer etwas Gutes, über das sie spricht. Es ist ein Geschenk, so eine Nachbarin zu haben.

„Ich begrüße Euch auf Allemannisch. Grüß Gott alle mitanand. Ich freu mich, dass ihr do seid“, hält sie eine kurze Ansprache an ihre Geburtstagsgäste. 1911 wurde sie geboren. Sie habe die ersten drei Wochen nur geschrien, bis die Eltern endlich merkten, dass die Muttermilch nicht ausreichte, um sie satt zu machen. Später tauschte ihr Vater ein Kalb für ihre ersten Schuhe ein. Sie habe großes Glück gehabt, auf dem Lande groß geworden zu sein.

„Sie haben viel gesehen“, sage ich zu ihr.

„Ja, und viel erlebt“, antworte Frau Borstel in sich ruhend.

Hatten die Menschen früher Zeit, sich so viele Gedanken um sich selbst zu machen, wie wir es heute tun? Ist es überhaupt gut, so viel Raum zum Nachdenken zu haben? Ich habe mir in den letzten Jahren viel Freiraum geschaffen. Ein Luxus. Kennt ihr noch die Sendung „Am laufenden Band“ mit Rudi Carrell? Am Ende der Show stand der Gewinner an einem Fließband. Auf dem Band lagen lauter tolle Dinge wie ein Fernseher, eine Stereoanlage oder ein Fahrrad. Dann musste sich der Kandidat wegdrehen. Alles, was er in einer Minute aufzählen konnte, gehörte ihm. Oh, wie toll war dieser Gedanke für mich als Kind: Einfach aufzählen, was ich möchte, und all das gehört dann mir. Oft träumte ich davon, eine Nacht alleine in einem Kaufhaus eingeschlossen zu sein und mir alles aussuchen zu können, was ich wollte.

Ich habe es geschafft: Heute bin ich in dieser Situation – mehr oder weniger. Ich kann mir wünschen, was ich möchte. Ich habe zurzeit den Raum dafür. Ein großer Luxus, wie gesagt. Und was stelle ich fest? Statt ständig juchhu zu rufen, melden sich Stimmen in mir, die sagen…

„Barbara, du musst jetzt aber mal mehr tun. Das ist nicht gut, was du machst.“

„Was soll ich denn tun? Was ist richtig?“

„Was muss ich tun, damit andere mich gut finden?“

„Du bist nur gut, wenn du dich richtig anstrengst!“

„Mach mal was Vernünftiges, statt solche komischen Geschichten zu schreiben.“

Hallo – geht es noch? Was soll das denn jetzt? Ich bin im Paradies und fresse die ganze Zeit die Äpfel vom falschen Baum! Bin ich denn nun total bescheuert? Ich kenne doch die Geschichte von den beiden, der Schlange und den zwei Bäumen.

Da fällt mir eine kleine Episode von früher ein, als ich noch Schaltermäuschen war, also Auszubildende bei einer Bank. Die Besitzerin der Boutique „Adam & Eva Shop“ kam zu meinem Kollegen an den Schalter. Wir waren angehalten, unsere Kunden immer mit Namen anzusprechen, und so sagte mein Kollege zu der Dame: „Guten Morgen Frau Shop.“ Ich bin vor Lachen hinterm Tresen zusammengebrochen, vor allem, weil ich das erst irritierte und dann sehr belustigte Gesicht der Kundin beobachtet hatte.

Da lebe ich nun in einer großen Freiheit und fühle mich innerlich wie im Gefängnis mit bösen Wärtern, die mich blöde anmachen. Frau Berstel hat zwei Kriege erlebt. Hat erfahren, wie es ist, wenn durch die Inflation der ganze finanzielle Besitz von heute auf morgen seinen Wert verliert. Mir geht es so gut – und in mir toben innere Stimmen, die miteinander Krieg führen. Ich schüttele nur den Kopf. Ist es vielleicht so, dass die Kriege, die zwischen Menschen und Nationen auf der Welt stattfinden, ihren Ursprung in uns selbst haben? Ist es meine und unsere Aufgabe, Frieden in uns selbst zu schaffen?

So, und jetzt mähe ich den Rasen. Ich freue mich auf den Duft von frisch geschnittenem Gras. Dann gehe ich in aller Ruhe Schritt für Schritt durch meinen Garten und schaue mir alle Blumen, Büsche, Ranken und Bäume an. Die Sonne scheint herrlich. Ich bin satt. Ich treffe bestimmt gleich Frau Berstel. Dann lächele ich sie zufrieden an und sie mich.

„Alles ist gut!“

 

4 Gedanken zu „22. Tube – Krieg und Frieden

  1. Liebe Barbara, es ist lustig und unterhaltsam, wie Du fröhlich von einem Thema zum anderen springst und die Assoziazionen Dich davontragen … „am laufenden Band“. Da bin ich schon immer ganz gespannt, wo es als nächstes hingeht. Und Danke für den Garten mit den wunderschönen Blumen. Kein Krieg nur Frieden und ganz viel Lebendigkeit.

    • Guten Morgen lieber Olav,
      huch dachte ich, es ist doch noch gar nicht Freitag. Da habe ich meine Tube einen Tag zu früh publiziert. Tolle Überraschung deinen wunderschönen Kommentar zu lesen. Vielen Dank dafür! Es ist auch für mich sehr spannend zu beobachten, was mein Kopf alles produziert, sobald er frei gelassen wird;))
      Ich wünsche dir einen Tag mit vielen guten Überraschungen
      Barbara

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