Ich bin in Feierlaune. In den letzten Tagen kam eine gute Nachricht nach der anderen. Das muss gefeiert werden. Ich rufe meine Freundin Isabella an. Sie ist immer fürs Feiern zu haben. So ist es auch heute. Der Abend beginnt vielversprechend – und endet mit einem Knaller.
Isabella ist auf ein Firmenjubiläum eingeladen und fragt, ob ich mitgehen möchte. Ja klar! Ich mag es, neue Menschen kennenzulernen. Wir gehen zusammen hin. Bis auf die Gastgeberin kenne ich niemanden.
Ich mische mich fröhlich unters Volk. Meine Strategie ist: Immer lächeln – das ist das Wichtigste, sonst geht gar nichts und man bleibt am besten zu Hause. Augenkontakt aufnehmen, auf den Menschen zu gehen und Arm ausstrecken. Dann sage ich: „Guten Tag. Ich bin Barbara Moutarde.“ Sobald ich über diese Hürde des Erstkontakts hinweg bin, geht es ganz leicht. So lerne ich ein älteres, aber junggebliebenes frisch verliebtes Ehepaar kennen, das nach Südafrika ausgewandert ist, um nach ihrer Trennung von den Ex-Partnern neu anzufangen. Ich lerne einen Anwalt kennen, der sich darauf spezialisiert hat, drohende Rosenkriege zu vermeiden. Herrlich. Lauter nette und interessante Begegnungen.
Jetzt stelle ich den Blickkontakt zu zwei Herren her, die mich freundlich anschauen.
„Guten Tag. Ich bin Barbara Moutarde.“
Die beiden stellen sich vor. Nach wenigen Sätzen dreht sich der eine zum anderen und sagt:
„Kommen Sie, wir gehen.“
Und weg sind sie. Einfach so, ohne etwas zu sagen. Hä? Was war das denn jetzt? Schlagartig fühle ich mich frustriert. Ich komme mir vor wie ein marmorner Hund. Solche, diemanchmal vor Vorstadtvillen stehen. Bin ich so blöd, höre ich mich denken. Habe ich etwas falsch gemacht? Wenigstens Tschüß hätten sie doch sagen können.
In diesem Zustand bin ich nicht mehr in der Lage, mit meiner Kennenlern-Strategie weiterzumachen. Jetzt sehe ich nur noch Menschen, die wegschauen. Klar, bei diesen Gedanken. Mist. Am liebsten würde ich mich auf der Stelle wegbeamen, wie bei Raumschiff Enterprise. Beam me up, Scotty.
Ich brauche Bedenkzeit. Ich hole mir etwas vom Buffet und starte die Am-Essen-Festhalten-Strategie. Ich stelle mich zu zwei anderen Männern an den Stehtisch und begrüße sie – diesmal zurückhaltender.
Ich kann mich nicht mehr richtig an den Beginn des Gesprächs erinnern. Jedenfalls sage ich irgendwann zu einem der Männer, dass ich morgens beim Aufstehen zuerst den rechten Fuß auf den Boden setze und Danke sage und danach dasselbe mit dem linken Fuß mache. Schritt für Schritt auf dem Weg zum Badezimmer sage ich Danke und fühle meine Dankbarkeit für alles, was gut ist in meinem Leben: das Dach über dem Kopf, das fließend warme Wasser…
Meinem Gegenüber ist inzwischen die Kinnlade heruntergefallen.
Schließlich sagt er mit großen Augen: „Sie auch?“
Er erzählt davon, wie er in den vergangenen acht Jahren sein Leben komplett verändert hat. Auslöser war eine Autobahnfahrt mit seinem Mercedes SLK. Mit 200 km/h drängte er einen anderen SLK zu Seite. Kurz darauf scherte ein Lastwagen von rechts ohne Ankündigung auf seine Spur. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: Hinten draufrauschen oder links in die Leitplanke donnern. Er wählte die Leitplanke. Sie Seite vom SLK wurde weggerissen. Die Airbags lösten aus.
Er erinnert sich: „Eine Frau, eine schwarze schmale Gestalt, kam auch mich zu und fragte ´Wollen Sie meine Hand nehmen?´ Nein. Warum sollte ich ihre Hand nehmen? Fünf Minuten später kam sie wieder und fragte erneut. Dieses Mal nahm ich ihre Hand. Ich fühlte mich, als würde ich drei Meter zurückgeschleudert. Eine enorme Energie floss durch meinen Körper. Ich hatte nichts, keine Verletzung. Kein Schleudertrauma. Diese Frau hat mir Energie gegeben.“ Die Frau, die ihn aus dem Auto holte, war die, die er kurz vor dem Unfall zur Seite gedrängt hatte.
Wahsinn. Wieder so eine Geschichte. Jetzt hängt mir die Kinnlade unten. Seither hat er sein Leben völlig umgekrempelt. Auch er steht jeden Morgen auf und macht seine Dankbarkeit groß für alles, was ihn umgibt. Seine Mitarbeiter führt er heute ganz anders als noch vor dem Unfall. Wenn sie mit einem scheinbar unlösbaren Problem zu ihm kommen, sagt er: „Jeder bekommt das, was er erfüllen kann. Sie schaffen das.“
Zwei Stunden vergehen wie im Flug. Wir sind die letzten. Ich habe das Gefühl, diesen Mann schon lange zu kennen. Ist es nicht unfassbar, wie sekundenschnell sich das ganze Leben ändern kann?