36. Tube – Liebe im Augenblick


Liebe im AugenblickFrühmorgens im Bus, Hamburger Innenstadt. Alle Plätze sind besetzt. In sich versunken hängen die Menschen auf ihren Sitzen. Ein Mann schaut mit leerem Blick nach draußen. Das junge Mädchen gegenüber blickt durch halb geöffnete Augenlider in ihr Smartphone. Ein junger Typ hat Stöpsel in den Ohren, die Augen geschlossen und hört Musik. Im Bus hängt eine schläfrige Trägheit. Was denken die Menschen gerade?

Eine ältere Frau schaut ganz grimmig. Über ihrer Nasenwurzel haben sich zwei senkrechte Falten gebildet. Oh, die macht sich bestimmt keine guten Gedanken! Manchmal schaut mich jemand an – nur für den Bruchteil einer Sekunde – und dann sofort wieder weg. Bloß keinen Kontakt. Ich sehe geöffnete Augen, und trotzdem scheint der ganze Bus zu schlafen. Alles voller Menschen, und doch scheint niemand da zu sein.

„Hallooo – ist hier jemand?“, möchte ich rufen. „Sieht mich jemand?“

Mein Blick wandert zu einer jungen Frau Ende zwanzig. Sie sitzt mir schräg gegenüber, etwa fünf Meter entfernt. Sie schaut mich an. Wirklich anschauen meine ich! Sie geht nicht einfach mit ihren Augen über mich hinweg wie ein Scheibenwischer über die nasse Windschutzscheibe. Ich spüre regelrecht, wie mein Abbild auf ihre Netzhaut projiziert und in ihr Gehirn übertragen wird.

Wow! Bam! Sie sieht mich! Ich fühle das. Wir lächeln uns an und halten den Blickkontakt. Eine Sekunde, zwei, drei Sekunden. Eine ganze Ewigkeit für einen Blickkontakt im öffentlichen Stadtbus. Wir drehen beide den Kopf wieder weg. Ich denke an sie und genieße dieses wohlige Gefühl. Jetzt bin ich in Gedanken bei ihr. Ich weiß, dass auch sie jetzt an mich denkt, vielleicht so etwas wie: Ach, da ist ja noch jemand im Bus, der gute Laune hat. Oder: Die sieht ja nett aus.

Wir schauen uns wieder an. Jetzt müssen wir beide sofort lachen. Ohne etwas zu sagen, gehe ich mit ihr in einen inneren Dialog.

„Du bist ja gut drauf.“

„Ja, du auch. Die anderen schlafen alle. Das ist lustig.“

„Ja, die sind irgendwo anders. Nur wir sind wach. Ich freue mich, dass ich dich hier getroffen habe. Wie geht es dir?“

„Mir geht es sehr gut. Ich habe dich noch nie zuvor gesehen und trotzdem das Gefühl, dass wir uns schon lange kennen. Ganz vertraut. Geht es dir auch so?“

„Ja, mir geht es genauso. Komisch, nicht?“

Wie soll ich das Gefühl nur beschreiben, ohne dass es komisch klingt? Ich fühle mein Herz. Ich fühle eine sehr enge Verbindung zu einer fremden Frau. Ich fühle eine innere Berührung. Ich fühle mich gesehen und geliebt. Mensch, das klingt ja echt doof – und es ist so. Punkt. Mir doch egal, was jemand anderes jetzt denkt!

Der Bus hält an. Sie steht auf und geht zur hinteren Tür. Sie dreht ihren Kopf zu mir, lächelt und winkt zum Abschied. Ich lächele und winke zurück. Sie ist weg.

Was war das denn? Ich denke an meine letzte Partnerschaft. Da hatte ich einmal so einen Moment. Wir haben uns in die Augen geschaut, und ich hatte das Gefühl, dass sich unsere Seelen berühren. Ich sah ihn und er sah mich, so ganz mit dem Herzen. Frei von irgendwelchen Erwartungen, Meinungen oder sonstigen Gedanken. Einmal in drei Jahren….

Ich fühle mich unglaublich leicht. Der Tag hat gerade erst angefangen und ist schon jetzt ein gelungener Tag. Ist das Liebe – eine intensive Beziehung zu einem anderen Menschen in sich zu spüren? Dabei ist es offensichtlich nicht so wichtig, wie lange oder gar ob ich jemanden kenne.

Für ein so großes Gefühl braucht es nur einen kleinen Augenblick.

6 Gedanken zu „36. Tube – Liebe im Augenblick

  1. Jürgen erzählte manchmal die Geschichte, als er einmal irgendwo in den Staaten war, in einem kleinen Ort zufällig halt machte um ein paar Schritte zu gehen. Nichts besonderes passierte, es war einfach mal alles ok. Und er setzte sich auf ein paar Stufen, auf die ein bisschen die Sonne schien. Jemand kam vorbei, ein Chinese mittleren Alters, und schaute ihm direkt ins Gesicht, als würden sie einander schon lange kennen: You’re looking so – familiar! Ja, sagte Jürgen, und genau so habe ich mich auch gefühlt – mit allem vertraut und verbunden. Manchmal kann man es eben spüren …

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