Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ein ziemlich schlechtes Gewissen.
Ich koche nicht jeden Tag ein gesundes Essen für meine Kinder. Es gibt oft einfach Nudeln mit Soße, eine Karotte dazu oder einfach nur eine Brotzeit. Ich lerne nicht täglich mit meinen Kindern. Ich schaffe es nicht jeden Tag, die Hausaufgaben zu kontrollieren, damit ich weiß, wie es in der Schule läuft und entsprechend unterstützen kann. Ich lerne nicht jeden Tag mit meinen Kindern Vokabeln, obwohl ich denke, dass ich das tun sollte. Ich bin eins bis drei Abende pro Woche unterwegs und nicht bei meinen Kindern. Ich fühle mich oft als Rabenmutter.
Der Begriff Rabenmutter geht darauf zurück, dass Rabenkinder nach dem Verlassen des Nestes am Boden sehr unbeholfen erscheinen. Zu Zeiten von Luther wurde daraus geschlossen, dass die Rabeneltern ihren Nachwuchs zu früh sich selbst überlassen.
Vorgestern kommt meine Tochter zu mir.
„Mama, wir haben den Englisch-Vokabeltest zurückbekommen… Was meinst du, wie viel Prozent ich richtig habe?“
„Sechzig?“ „Nein.
„Siebzig?“ „Nein.“
„Achtzig?“ „Nein.“
„Neunzig?“ „Nein.“
„Fünfundneunzig?“ „Nein.“
„Fünfundachtzig?“ „Nein.“
„Wie viel?“ „Neunundneunzig – und ich habe nicht viel dafür gemacht!“, freut sie sich.
„Wow. Das ist ja toll.“ Ich bin still. Ich verkneife mir den Satz `Da hast du ja Glück gehabt´. Ich war bisher nämlich davon überzeugt, dass man nur gut sein kann, wenn man sich so richtig anstrengt.
Gestern kommt meine andere Tochter zu mir.
„Mama, ich habe im Vokabeltest 34 von 34 Punkten!“
„Wow.“
„… und ich habe 34 Extrapunkte!“ Sie hatte nicht nur das englische Bilderdiktat vollständig, sondern auch noch die englischen Wörter komplett richtig aufgeschrieben.
Ich bin ehrlich – ich bin total verblüfft. Nein, nicht, weil ich es meinen Kindern nicht zutraue. Sie sind sehr schlau. Ich bin verblüfft, weil ich nicht mit den Kindern gelernt habe, weil ich sie nicht abgefragt habe… weil ich sie sich selbst überlassen habe… weil ich eine Rabenmutter bin.
Mathematik war früher positiv ausgedrückt nicht gerade das Lieblingsfach meiner älteren Tochter. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich noch nicht ausreichend damit beschäftigt hatte. Es war immer irgendwie anstrengend, sie zum Hausaufgaben machen zu motivieren. Ich erklärte ihr, wie die Aufgabe funktioniert und hatte das Gefühl, dass kaum etwas ankommt. Ich gab Regeln vor, wie zum Beispiel: kein Hören von MP3-Player oder Radio während der Hausaufgaben. Volle Konzentration auf das Thema. Wir hatten oft Diskussionen deswegen. Ich war vollkommen davon überzeugt, dass das alles so sein müsste.
Heute hatte ich das dritte Rabenmutter-Erlebnis in Folge.
Meine Tochter sitzt auf ihrem Bett und macht Mathehausaufgaben. Dabei hört sie ein Hörspiel auf ihrem Recorder. Ein Hörspiel – nicht nur Musik! Das kann doch gar nichts werden, denke ich. Ich bin schon beim Luftholen, um zu schimpfen:
„Mach den Recorder aus. So geht das nicht!“
Doch irgendeine Stimme in mir ruft ein lautes STOPP!
Ich bin still und setze mich neben sie aufs Bett. Sie macht Algebra. Auflösen von Klammern mit mehreren Variablen. Komplexer und abstrakter als alles, was sie jemals gemacht hat. Die Stimmen im Hörspiel unterhalten sich laut. Ich schaue auf den Aufgabenzettel und rechne nach. Alles ist richtig – alles! Zum dritten Mal in dieser Woche bin ich absolut überrascht.
Ich fasse in meinem Kopf zusammen: Ich habe nicht mit meinen Kindern gelernt. Sie haben ihre Aufgaben komplett allein gemacht. Meine Tochter hat die Matheaufgaben im Bett gemacht und dabei ein Hörspiel gehört! Das Ergebnis: alles richtig. Volle Punktzahl. Meine Kinder sind happy und entspannt. Ich, die Rabenmutter, bin vollends irritiert.
Kann es sein, dass ich mich irre? Wissen meine Kinder besser als ich, wie sie mit den Schulaufgaben umgehen?
Ich habe kürzlich den Film „Alphabet“ gesehen. Studien zeigen, dass 98 Prozent der Kinder hochbegabt zur Welt kommen. Nach der Schule sind es nur noch zwei Prozent.
Im Film wird neben vielen interessanten Menschen auch André Stern porträtiert. Seine Eltern haben ihn nicht zur Schule geschickt. Heute ist er Musiker, Komponist und Gitarrenbaumeister, Journalist und Autor des Buches „…ich war nie in der Schule“. Unglaublich, oder? Sind seine Eltern Rabeneltern oder denken sie einfach anders als die meisten von uns? Hat es vielleicht Vorteile eine Rabenmutter zu sein? Eine Rabenmutter, die ihre Kinder die Schulaufgaben so machen lässt, wie sie es für richtig halten? Eine Rabenmutter, die ihren Kindern zutraut, dass sie es selbst vielleicht sogar viel besser wissen, was für sie gut ist?
Rabeneltern füttern ihre Jungen wochenlang und schützen sie vor Feinden. Rabenvögel sind sogar für ihre besonders stark ausgeprägte Brutfürsorge bekannt: Fällt ein Vogeljunges aus dem Nest, wird es dort weiter gefüttert, bewacht und „beherzt verteidigt“, wissen Vogelkundler. Rabeneltern kümmern sich um ihre Kinder – und wäre es anders, müssten die Raben doch schon längst ausgestorben sein, oder? Oft laufe ich an Bäumen mit hunderten von Raben vorbei, die lauthals und sehr lebendig krächzen. Welch ein Trugschluss, heute von Rabeneltern zu sprechen, die sich nicht rund um die Uhr um ihre Kinder kümmern.
Bei Geburt sind fast alle Kinder hochbegabt. Ich höre jetzt auf zu glauben, dass ich es besser weiß, wie meine Kinder ihr Leben zu leben haben. Mein größter Wunsch ist, dass sie glücklich sind und sich selbst vertrauen. Ich werde jetzt endlich eine richtige Rabenmutter. Rabenmütter trauen ihren Kindern zu, das Nest zu verlassen. Zur Not werde ich sie beherzt verteidigen. Und heute Abend machen wir gemeinsam Pizza.
Liebe Barbara, danke für Deinen schönen Text. Im übertragenen Sinn habe ich manchmal gedacht: Ich bin ein Rabenchef. Dachte, ich muss doch aufpassen, kontrollieren, helfen – zu einem guten Ergebnis. Dachte, dass ist doch meine Aufgabe. Ich habe auch entdeckt: Es ist viel weniger davon. Ich muss das Gute einfach nur geschehen lassen. Und man kann sich darauf verlassen: wenn es darauf ankommt, werde ich meine Leute auch beherzt verteidigen. Und meinen Sohn natürlich auch. Gute Rabenmütter und – väter lassen ihre Kinder an sich selber wachsen.
Lieber Olav, toll, toll, toll! Welch ein großes Glück haben Deine Mitarbeiter. Und vielen Dank für diese neue Perspektive des Rabenchefs. Herzliche Grüße Barbara