Gestern bin ich in mein neues Büro in der Hamburger Innenstadt gefahren. Ich hatte mir vorgenommen, es mir richtig gut gehen zu lassen. Das zu tun, was mir Freude bereitet und dabei gute Gedanken haben. Fast den ganzen Tag ist es mir gelungen.
An der U-Bahnstation Feldstraße kaufe ich am Automaten ein Fahrschein ins Zentrum und setze mich in die U3 zur Binnenalster. An den Landungsbrücken taucht die U-Bahn aus der Tiefe aus und ich habe einen herrlichen Blick auf die Elbe, den Hafen und die Elbphilharmonie. Ich bin ganz erfüllt: So einen tollen Weg darf ich zu meinem Büro fahren! Ich lächele und schaue mich um. Alle Menschen im Abteil sind in ihre Gedanken versunken. Ich möchte rufen: „Hallo, schaut mal raus – wie schön!“ Ich lasse es heute, muss bei dem Gedanken aber grinsen. Das mache ich dann nächste Woche!
Am Rathausmarkt steige ich aus. Andere machen hier Urlaub und ich lebe hier – toll! Auf dem schwimmenden Ponton in der Mitte der Binnenalster ist der riesige Weihnachtsbaum schon aufgestellt, damit die tausenden von Lämpchen Platz haben. Durch das liebevoll restaurierte Treppenhaus des Gebäudes, in dem ich arbeite, gehe ich hinauf und freue mich über die alten prächtigen handgearbeiteten Fliesen an der Wand. Ich begrüße die netten Damen am Empfang mit Handschlag und setze mich in den Bistrobereich im französischen Stil: Schwarz-weiß karierter Steinboden mit schwarzen Holzstühlen und roten Sitzbänken. Ich hole mir eine leckere Latte Macchiato und setze mich auf einen Platz mit Blick auf die Alster. Es geht nicht besser.
Was tue ich heute? Wie seit drei Jahrzehnten üblich, beginne ich den Arbeitstag mit einer To-do-Liste. Schlagartig merke ich, wie meine Laune umschlägt. Was habe ich gerade gedacht? To-do-Liste… Ich spüre einen Druck auf meinen Kopf und mein Hals wird eng. Ich nehme das Blatt, zerknülle es und werfe es weg. Das tut gut.
Nochmal. Was tue ich heute? Auf was freue ich mich heute?
Auf ein neues Papier schreibe ich oben hin: „Ich freue mich heute auf…“
Das ist viel besser. Ich muss automatisch lächeln – und schreibe:
„…meinen neuen Flyer zu entwerfen. …die Telefonkonferenz mit meinem Erfolgteam Katharina, Anja und Kathrin. …die Auswertung von Google Adwords.“
Stopp. Ich spüre sofort wieder den Druck und streiche den letzten Punkt. Besser. Noch einmal.
„Ich freue mich darauf, …die Auswertung gemacht zu haben.“
Viel besser! Ich fühle jetzt die Erleichterung, diese unangenehme Arbeit, die ich schon Tage vor mir herschiebe, endlich getan zu haben. So füge ich eine Liste zusammen mit Dingen, an deren Ausführung ich Freude habe, und Aufgaben, bei denen ich mich freue, sie bald erledigt zu haben. Das fühlt sich gut an und ich lege los. Es klappt hervorragend.
13 Uhr. Ich fühle mich ein wenig erschöpft und habe das meiste auf meiner Ich-freue-mich-Liste erledigt. Das meiste – noch nicht alles.
„Das schaffst du auch noch, Barbara“, sporne ich mich in alter Manier an. Obwohl ich dringend frische Luft und ein wenig Abwechselung bräuchte, mache ich weiter. Mein Rechner scheint auch eine Pause zu brauchen und wird immer langsamer.
Egal – ich ziehe das jetzt durch!
Anderthalb Stunden später klappe ich meinen Laptop entnervt zu. Mist. Anderthalb Stunden – in denen ich nichts gespürt habe. Ja, ich habe etwas getan, aber ich habe nichts wahrgenommen. Ich habe nur funktioniert. Müde und gedankenverloren trotte ich zur Bahnstation. In der Bahn fühle ich mich wie die Menschen, die ich auf der Hinfahrt beobachtet habe. Ich will mich nicht ärgern und schließe meine Augen, um mich zu entspannen. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und auf die Stimme vom Band, die die nächste Station ansagt und warte auf die Ankündigung der Station „Altona“. „Altona“ höre ich nicht. Stattdessen sagt eine Stimme: „Die Fahrkarten bitte.“
Entsetzt reiße ich die Aufgen auf. Die Frau gegenüber sieht mich ganz erschrocken an. Ich weiß sofort, dass etwas nicht stimmt. Automatisch hole ich mein Portemonnaie heraus, klappe es auf, nehme die Fahrkarte von der Hinfahrt in die Hand. Der Kontrolleur steht vor mir.
„Ich habe vergessen, eine Fahrkarte zu kaufen“, sage ich und reiche ihm die von heute früh, um zu beweisen, dass ich keine notorische Schwarzfahrerin bin, was natürlich nicht hilft. Ein junger Mann, mit Tattoos und Piercings übersät, zieht eine Karte heraus und sagt: „Die ist von meiner Freundin. Die kann sie doch nehmen.“ Der Kontrolleur schüttelt den Kopf.
So sitze ich da in einem Gefühlsfeuerwerk wie zur Jahrtausendwende: Erschöpft, ertappt, entnervt und gerührt und frage mich: „Warum muss mir das jetzt passieren?“
Wie eine Schwerverbrecherin muss ich mit den zwei Kontrolleuren an der nächsten Station Reeperbahn die Bahn verlassen und meinen Personalausweis vorzeigen.
„Warum nur?“, frage ich mich unentwegt.
Fast hatte ich es geschafft, diesen Tag zu einem ganz genialen Tag zu machen. Mein Körper hatte es mir gezeigt. Mein Laptop hatte es mir gezeigt. Na und jetzt auch noch der Hamburger Verkehrsverbund! Ich hätte einfach aufhören sollen um 13 Uhr. Vierzig Euro hat mich dieses Bewusstseinstraining jetzt gekostet!
Eigentlich ganz okay für die Erkenntnis, dass weniger manchmal tatsächlich mehr ist, denke ich und schaffe es, ein Lächeln hervorzubringen.