17. Tube – Western am Deich


UwePeggy_kleinEs gibt Zeitpunkte im Leben eines Mannes und einer Frau, da müssen Entscheidungen getroffen werden! Nur dann kannst du gewinnen.

12 Uhr mittags. High Noon. Die heiße Luft flimmert erbarmungslos über dem Asphalt. 36 Grad Celsius, und es wird noch heißer. Unsere Schritte sind langsam. Die Straßen sind leer gefegt. Nichts ist los – nur wir.
Claudia, Peter und ich haben uns heute früh auf den Weg nach Westerdeichstrich gemacht, um unsere Kinder abzuholen. Sie waren eine Woche in Nordfriesland auf dem Reiterhof. Im Auto unterhalten wir uns über unsere beruflichen Aktivitäten. Ich erzähle von meinem derzeitigen Wagnis, als Freiberuflerin komplett neu zu beginnen. Auch Peter ist gerade dabei, sich beruflich neu zu orientieren. Ein paar Bewerbungen für eine Festanstellung habe er rausgeschickt.

„Wenn daraus nichts wird, versuche ich freiberuflich einen Fuß in die Tür zu kriegen“, sagt er etwas zögerlich.

Irgendetwas stimmt nicht, denke ich. Neustart und versuchen? Ich stelle mir Usain Bolt vor: 1,95 Meter pure Muskeln. Der Jamaikaner hält aktuell mit 9,58 Sekunden den Weltrekord im Hundertmetersprint. Wenn so ein Läufer an den Start geht und seine Füße im Startblock positioniert, dann versucht er nicht den Weltrekord zu brechen. Er weiß, dass er den Weltrekord bricht. Er hat es schon oft mit jeder Zelle seines Körpers erlebt und weiß, wie es sich anfühlt, den Weltrekord zu laufen. Er hat die roten Ziffern auf der Digitalanzeige schon vor dem Sieg vor seinem inneren Auge gesehen. Vielleicht hat er so eine Anzeigentafel zu Hause, auf der die Zeiten, die er laufen will, fest eingegeben sind. Er hat den Jubel und tosenden Applaus der Menge zu seinem Weltrekordlauf schon gehört!

Ist Peter sich sicher, dass er einen Job kriegt? Bin ich mir sicher, dass mein Vorhaben erfolgreich sein wird?

Wie geht das, sich des Erfolgs sicher zu sein, bevor ich überhaupt angefangen habe, frage ich mich. Wie fühlt sich das an?

Wir kommen in Westerdeichstrich an. Weiße Bretter umzäunen die Koppeln. Die Pferde grasen friedlich. Wir holen unsere glücklichen Mädchen ab, die gerade eine Woche lang wie Winnetou und Old Shatterhand mit den Pferden gelebt haben. Zum Abschied vom Western-Deich wollen wir noch einen Kaffee trinken und Kuchen essen. Ein paar Meter weiter finden wir direkt am Deich „Peggy´s & Uwe´s Ranch & Café“.

Das Café scheint ganz neu zu sein. Wir lassen uns an rustikalen Holztischen in Korbstühlen nieder – hier ist es angenehm kühl. Die Wände sind in senffarbenem Grobputz gehalten. Ein Cowboyhut hängt lässig über dem Biertresen. Jede Woche wird hier Livemusik gespielt. Schräg – und ganz anders, als ich es von einem Café in Nordfriesland erwartet hätte.

Vom Tresen her höre ich eine Männerstimme mit breitem fränkischen Dialekt etwas in die Küche rufen. Eine weibliche Stimme antwortet ebenfalls auf Fränkisch. Hier läuft etwas total anders! Jetzt kann ich meine Neugierde nicht mehr im Zaum halten – ich muss wissen, was hier los ist. Was ist die Geschichte hinter einer Café-Ranch mit fränkischen Inhabern direkt hinterm Deich in Nordfriesland?

Uwe kommt schnell ins Erzählen. Er und seine Ehefrau Peggy kommen aus Nürnberg. Vor zehn Wochen haben sie das Café eröffnet. Vorher haben sie alles komplett selbst renoviert.

„Wie kommt ein fränkisches Paar nach Nordfriesland?“, will ich wissen.

35 Jahre war er als Abteilungsleiter bei einem Logistikunternehmen beruflich sehr erfolgreich. Das Unternehmen ist gewachsen und gewachsen. Der Druck wurde höher und höher. Immer mehr Effizienz und Produktivität wurde gefordert, um den Shareholder-Value zu steigern.

„Verrückt. Ich wollte nicht mehr mitmachen und noch mehr Druck auf meine Mitarbeiter ausüben“, sagt Uwe mit hochgezogenen Augenbrauen und schüttelt den Kopf. „Dann haben sie mir einen Coach zur Seite gestellt. Der sollte mich wohl auf Spur bringen.“

Nach vier Stunden sagte der Coach zu ihm: „Wir brauchen nicht weitermachen. Sie wissen, was Sie wollen.“ Dann seien sie spazieren gegangen. „Vor dem Abschied machen wir noch eine letzte Übung“, sagte der Coach schließlich zu Uwe. „Wir schauen uns in die Augen. Wenn einer wegschaut, ist der Termin zu Ende.“

Wie in „Spiel mir das Lied vom Tod“ mit Charles Bronson: Zwei echte Männer stehen einander gegenüber. Die Körper in Habachthaltung, die Hände dicht an den Waffen. Beide schauen sich tief in die Augen. Wer zuckt, hat verloren.

„Genauso saßen wir uns gegenüber“, erinnert sich Uwe mit einem Gewinnerschmunzeln, „25 Minuten lang!“ Nur zehn Prozent der Manager würden das aushalten, sagte der Coach anerkennend und nahm ihn zum Abschied in den Arm. Am nächsten Tag ging Uwe in die Firma und kündigte. Peggy und er verkauften die Eigentumswohnung und zogen nach Nordfriesland. 20 Jahre lang habe er davon geträumt, hier am Meer zu leben.

„Wie hast du das gemacht?“ frage ich Uwe.

„Du musst genau wissen, was du willst!“

Für einen Moment ist es wieder ganz still. Die Hitze bringt die Luft hinterm Deich zum Flirren.

Er war sich sicher, dass er eines Tages hier leben wird. Kein Zweifel. Kein Zucken. Und dann hat er abgedrückt.

2 Gedanken zu „17. Tube – Western am Deich

  1. Liebe Barbara,
    nun ist sie endlich da, die Geschichte hinterm Deich, hatte nach deiner Ankündigung schon einige Abende mit einer Bratwurst in der Hand an der Senftube herumgedrückt. Wollte den neuen Appetitanreger, deinen Blog, endlich zu mir nehmen. War gespannt, was dein neuer Blog, aus dir herausholt…
    Kein Zweifel, der hat es in sich, der Blog mit dem inneren Auge…
    Wann ist wer warum für was wielange blind, blauäugig, kurzsichtig oder lupenlos?

    Viele liebe Grüße
    Sabine

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